»Karl Valentin zum Bühnenmeister des Deutschen Theaters: »Sie sagn immer, die Kulissen san der Hintergrund! Jetzt stehnga mir dahinter – also is des jetzt der Vordergrund! Merken S’Ihnen das, man kann nicht vorsichtig gnug sein mit solchene Behauptungen!« In ihren ersten Videoarbeiten entdeckte Mariola Groener, was später zentrales Arbeitsprinzip wurde. Als sie Aufnahmen aus Alltagssituationen in Einzelbilder zerlegte, kam Überraschendes zum Vorschein: harmloses Lachen enthielt auf einmal bedrohliche Züge. In der Dehnung von Zeit, so fand die bildende Künstlerin heraus, entsteht ein anderer Raum, ein Raum, in dem viel Platz ist für Projektionen und Mehrdeutigkeiten. Günther Wilhelm hatte schon immer eine Neigung zur Isolierung von Bewegung. Arm- und Beinarbeit zu trennen, einzelne Bewegungen in ihre Bestandteile aufzuspalten, wurde so etwas wie eine zweite Natur. Als der Tänzer und Choreograf Butoh studierte, lernte er ein anderes Verständnis von Zeit kennen. Zeit, die stark ausgedehnt wird und dadurch den Raum vergrößert.

ZERDEHNEN UND ZERLEGEN

Zwei Systeme, die sich gegenseitig bedingen und Ausgangspunkt einer gemeinsamen Suche wurden. Als Mariola Groener und Günther Wilhelm vor sechs Jahren miteinander Stücke zu erarbeiten begannen, brachten sie sowohl unterschiedliche Kunstformen als auch geteilte Sichtweisen ein. Die genaue Betrachtung von Bewegung, die Aufspaltung von Bewegungs- und Filmbildern und ihre Zusammensetzung zu einem Gesamtbild sind die Basis der Arbeit. Daraus folgte zweierlei: dass, da die Dinge sich offensichtlich unterschiedlich betrachten lassen, das Entscheidende überhaupt die Perspektive ist, die grundsätzlich verändert werden kann, und: dass die Dinge, die dabei verschiedene, ja gegensätzliche Seiten offenbaren, janusköpfig sind. Dualität ist überall: sie bestimmt Zeit, Raum und den Körper. Dualität ist auch der Zusammenarbeit selbst eingeschrieben. Mariola Groener und Günther Wilhelm bilden die Kunstfigur WILHELM GROENER, in der sie über die Grenzen ihrer jeweiligen Disziplin hinweg einen Raum erkunden, der durch die Erweiterung der gemeinsamen Schnittmenge entsteht. Mariola Groener, an der Folkwangschule ausgebildet in Fotografie und audiovisuellen Medien, und Günther Wilhelm, der vier Jahre bei VA Wölfls Neuer Tanz arbeitete, Jahre, in denen »weiter angestoßen« wurde, was bereits angelegt war, kennen sich seit vielen Jahren und teilen einen langen Weg gegen- seitiger Inspiration und Reibung, einer Wechselwirkung zwischen Personen und Medien. Es geht dabei, wie Mariola Groener es bezeichnet, um die kontinuierliche «Ausweitung der Positionen», durch die die Frage nach Gewicht und Anteil der einzelnen Kunstformen überflüssig wird.

BOXEN-STOPP

Eindrucksvoll gelang es WILHELM GROENER in ihrem letzten Stück »Paravent Privé«, das sehr präzis, sehr poetisch vom Schicksal des Privaten und des Öffentlichen handelt. Das Publikum wandert zwischen neun mit durchsichtiger Folie bespannten Kuben, die akkurat in Dreierreihen angeordnet sind. Es wählt selbst die Perspektive, wechselt sie und wird allmählich des Raums und der schemenhaften Gestalten in den Boxen gewahr. Noch während sich der Zuschauer ein Bild macht, die Umrisse der Körper und die Ausschnitte der Aktivitäten – Dauerkommunikation, Rückzug, Körpertraining – zusammensetzt, entstehen bereits neue: Im heller werdenden Licht spiegeln sich die Zuschauer selbst in den Folien. Die Grenzen zwischen Drinnen und Draußen, zwischen Akteuren und Betrachtern verschwimmen und lösen sich fast auf, als die Wände einzelner Kuben geöffnet werden. Jeder ist Darsteller seiner selbst mit seinen eigenen Ritualen, jeder betrachtet und wird selbst betrachtet. Bühne und Zuschauerraum, privater und öffentlicher Raum werden eins: So wie das Private heute jederzeit im Licht der Öffentlichkeit steht, verschwindet das Öffentliche in der Dominanz des Privaten, der bloßen Ansammlung Einzelner.

PARAVENT PRIVÉ

In »Paravent Privé« entsteht ein Raum der multiplen Ebenen und Bezüge, ein Raum der Erweiterungen und Verschiebungen, der Widersprüche und der Umkehrungen, ein Raum auch zum ruhigen Betrachten der Dinge, ein Konzentrations- und Denkraum. Darin kann der Zuschauer sich bewegen und seine eigenen Entdeckungen machen, er kann assoziieren, reflektieren, identifizieren, sich distanzieren. Immer ist er Teil des Geschehens und bezieht Position. Dualität, Umkehrung, Ambivalenz – spätestens in »Paravent Privé« wird klar, dass es sich hier nicht nur um ein formales Arbeitsprinzip handelt, sondern um einen Grundzug unserer spätmodernen Existenz.
Trotz der sparsam verwendeten Mittel, der kargen Bühne, lädt sich der Raum mit immer neuen Fragen auf: lebens- und alltagspraktischen, ästhetischen, sozialen. Das war nicht immer so in der Arbeit von WILHELM GROENER. Die ersten Stücke prägten vor allem formale Genauigkeit und Abstraktion im Verhältnis von Bild und Bewegung, Körper und Raum. »Getrennte Präsenz« etwa, ein frühes programmatisches Werk, probiert auf der Grundlage klarer Trennung zwischen Tanz und Video, aber auch zwischen den Bewegungen selbst, die in Einzelbilder zerlegt und wieder zusammengesetzt werden, den Dialog. In »Ortnung« beginnen die Formen sich zu verbinden. Mit Objekten, Licht und Bewegung bauen die Künstler Räume auf und um, schaffen, wie der Titel andeutet, Orte und verändern Ordnungen. »Teilstücke/Time Is Relative« macht Bezüge außerhalb des Kunstkontexts sichtbar: im Disco-Ambiente, als mehrdeutige Bühne der Selbstdarstellung inszeniert, werden die Körper, die Lichtstrahlen reflektieren und absorbieren, wechselweise hervorgehoben oder zum Verschwinden gebracht und Glanz und Fallhöhe unserer Identitätsarbeit auf den verschiedensten Bühnen angedeutet. Im Lauf der Arbeit wachsen die Formen immer stärker zusammen, der Fokus verschiebt sich hin zur gesellschaftlichen Bedeutung. Der Kontext, mit dem die Formen ver- und bearbeitet werden, interessiert nun selbst. »Textur/tour de force«, ein Stück mit fünf Tänzern aus verschiedenen Sprach- räumen, beschreibt Kommunikation als Kraft- und Balanceakt zwischen den Codes verschiedener Kulturen, aber auch zwischen den Codes von Körper- und Schriftzeichen: ein Unterfangen, das nie ganz eindeutig und zudem lückenhaft ist, manchmal nicht funktioniert und manchmal doch, immer riskant bleibt und doch stets fortgesetzt wird.

REUE ODER REVUE

»Wirklichkeit«, sagen Mariola Groener und Günther Wilhelm, »hat großen Einfluss auf uns. Wir beobachten und reflektieren eigentlich ständig, was um uns herum geschieht.« Aus dem Fluss der Ereignisse und Wahrnehmungen bleiben Spuren zurück, die sich verdichten können zu einem Kern, um den herum ein Bild entsteht, das vielleicht zu einer Bühnenarbeit führt. Aber auch aus den vorausgehenden Projekten entwickeln sich neue Arbeiten. »Re(v)ue total«, das Stück, an dem WILHELM GROENER derzeit arbeiten, knüpft an »Paravent privé« an und führt das Thema von »Textur« weiter: der Körper, dort Sender von Codes, wird im nächsten Schritt zur Schnittstelle zwischen Privatem und Öffentlichem und in der jetzigen Arbeit zur multisignifikanten Oberfläche. Die Revue, in den 1920er Jahren Sinnbild von Vergnügen und Verschwendung und die Kehrseite wirtschaftlicher Depression, dient den Künstlern als Modell für den Blick auf unsere Realität. Knappheit und Überfluss beobachten sie auch heute: Mangel an Arbeit, Ende des Sozialstaats hier, Bilderrausch und Eventisierung dort. Dennoch besteht ein gravierender Unterschied. Die Formung des Körpers, deren Ausdruck in der Revue die maßidentischen Körper waren, die Partikel betörender Ornamente und zugleich Modell für normierte Arbeitsprozesse, ist heute einer ungleich intensiveren faktischen und medialen Bearbeitung des Körpers gewichen, die alle Lebensbereiche erfasst hat. Das Ornament bestimmt die Wirklichkeit viel weitreichender: Wirklichkeit, könnte man sagen, ist selbst ein Bilderornament.

BÜHNE UND TRIBÜNE

Alles wird wieder in einem kompakten Arrangement zusammenlaufen. Im Zentrum steht ein mehrdeutiges Objekt, bei dem Form und Sinnbezug eng aufeinander bezogen sind. Die Treppe, als Ort der Präsentation des Stars wie der Körperornamente Symbol der Revue schlechthin, ist für WILHELM GROENER, die Spezialisten der Ambivalenz, nicht nur Vehikel des Aufstiegs, sondern auch des Abstiegs, Symbol der Überhöhung wie der Leere. Zugleich reflektiert sie, gespickt mit Gegensätzlichkeiten, Raum und Publikum. In der »Re(v)ue total« betrachten die Zuschauer sich immer auch selbst: sie, die selbst auf einer Tribüne sitzen, werden auf der Bühne Platz nehmen und von dort aus auf das Geschehen im Zu- schauerraum blicken, das sich ebenfalls auf einer Treppe ab- spielt. Wie stets arbeiten Wilhelm und Groener auch hier mit einem extrem effizienten Bühnenkonzept. Sie machen sich zunutze, was schon vorhanden ist und bauen es in den Bedeutungszusammenhang des Stücks ein. Nichts steht nur für sich: alles, was benutzt wird, muss in sich stimmig sein und einen Sinnzusammenhang ergeben. Vor allem aber exponiert die Treppe den Körper, der vieles (Unvereinbares) zugleich ist: idealisiert, manipuliert, deformiert. »Re(v)ue total« wendet sich beiden Seiten zu, dem Glücksversprechen, das uns in einer Flut von Bildern präsen- tiert wird, und dem Gegenbild des sich verweigernden, schei- ternden und zerbrechenden Körpers. In der Einverleibung und vielfachen Transformationen von Bewegungen, die der Revue entlehnt sind, in den taumelnden, verzögerten, reduzierten und auf Männerkörper projizierten Bewegungen wird eröffnet, was die Revue, in der pausenlos etwas passieren muss, panisch vermeidet – Leerstellen. Revue und Reue: die Klammer im Titel verweist auf den Entzug, auf Fehlendes, auf die »Sehnsucht nach etwas, was jenseits des Angebots liegt«.